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Die Gefahr der Interpretation

Die Gefahr der Interpretation:

Und der damit verbundenen Vermenschlichung

Der Umgang mit Pferden erfordert Einfühlungsvermögen und Verständnis – doch die Interpretation und Vermenschlichung ihres Verhaltens birgt Gefahren. Ein falsches Deuten von Signalen kann schnell zu Missverständnissen führen, die die Beziehung zwischen Mensch und Pferd belasten. Anhand einer jungen Araberstute möchte ich zeigen, wie entscheidend klare Führung und ein fundiertes Verständnis für Pferdeverhalten sind.

Ein Beispiel aus der Praxis

Die Fakten:
Die junge Araberstute Falla befindet sich seit einem halben Jahr in der Herde. Auf dem Weg vom Putzplatz zum Round Pen zeigt sie auffälliges Verhalten: Sie bleibt häufig stehen, schaut sich um und wirkt zögerlich. Sobald die Straße erreicht ist, wird ihr Gang zügiger. Am Round Pen angekommen, ist sie angespannt, der Kopf hoch erhoben, der Rücken durchgedrückt. Innerhalb des Round Pens meidet sie eine Hälfte und hält sich bevorzugt auf der Seite auf, die näher zur Herde liegt.

Die Perspektive der Besitzerin Andrea:

Andrea sieht das Verhalten ihrer jungen Araberstute durch eine liebevolle, menschliche Brille. Wenn die Stute während des Weges zur Straße stehen bleibt und sich umschaut, interpretiert sie dies als Ausdruck von Neugierde. Für sie scheint es so, als wolle die Stute ihre Umgebung in Ruhe erkunden und sich einen Überblick verschaffen, bevor sie weitergeht. Sie gibt dem Tier deshalb Raum für eigene Entscheidungen und Zeit. Sie hilft ihrer Stute dadurch, Vertrauen aufzubauen – indem sie ihr die Möglichkeit gibt, die Umgebung aktiv wahrzunehmen und selbstständig einzuschätzen.

Das zügige Gehen auf der Straße, ist der Beweis dafür, dass es die richtige Entscheidung war, ihr auf dem Weg vom Putzplatz zur Straße Zeit zu geben sich alles anzuschauen.

Auch das Verhalten im Round Pen erscheint ihr logisch. Das Gebüsch auf der gemiedenen Seite wirkt aus ihrer Sicht bedrohlich für die Stute, vielleicht sogar „gruselig“. Die Besitzerin geht davon aus, dass das Tier diese Seite vermeidet, weil es sich dort unwohl fühlt. Sie sieht darin eine verständliche Reaktion und empfindet es als ihre Aufgabe, der Stute Zeit und Freiraum zu geben, bis sie von selbst sicherer wird.

 

Das Ergebnis bei dieser Herangehensweise:

Diese laissez-faire Einstellung führt dazu, dass die Stute keine klare Führung erfährt. Das häufige Stehenbleiben verstärkt ihre Unsicherheit und Stressreaktionen, da sie keine Orientierung durch ihre Bezugsperson bekommt. In ungewohnten Situationen – wie im Round Pen – kann dies das Verhalten weiter verschlechtern und langfristig zu einer Eskalation führen.

 

Die Verhaltensanalyse aus meiner Sicht:

Das Verhalten der Stute ist ein Ausdruck von Unsicherheit, die sich aus ihrer sozialen Bindung und ihrem Bedürfnis nach Sicherheit erklärt. Der Weg vom Putzplatz entfernt sie am weitesten von der Herde – ihrer Hauptquelle der Sicherheit. Das häufige Anhalten ist weniger Neugierde, sondern vielmehr eine Frage: „Können wir nicht hierbleiben, wo es sicher ist?“ das stehen bleiben der Besitzerin bestärkt die Stute noch in ihrer Frage. Erst an der Straße, die näher zur Herde liegt, wird ihr Gang zügiger. Im Round Pen bevorzugt sie die Seite, die näher zur Herde ist, während die gegenüberliegende Hälfte aufgrund der Entfernung und des angrenzenden Gebüschs als bedrohlich empfunden wird.

Die Perspektive von Andrea ist geprägt von Fürsorge und dem Wunsch, Falla das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Doch gleichzeitig zeigt sie, wie leicht menschliche Denkweisen unbewusst auf das Verhalten eines Tieres projiziert werden können. Die Interpretation von Neugier und Selbstbestimmung spiegelt vielleicht mehr die Hoffnungen und Absichten der Besitzerin wider als die tatsächlichen Bedürfnisse der Stute.

 

Die Lösung: Klare Führung als Schlüssel zu Vertrauen

Die Besitzerin hat ihre Herangehensweise angepasst: Sie läuft nun selbstbewusst und entschlossen neben ihrer Stute. Wenn diese zögert, gibt sie klare Signale, weiterzugehen. Durch bewusstes Variieren des Tempos – mal langsamer, mal schneller – und geführte Bewegungen in Schlangenlinien wird die Aufmerksamkeit der Stute stärker auf ihre Besitzerin gelenkt.

Das Ergebnis? Falla stoppt immer seltener, wird insgesamt entspannter und erreicht den Round Pen in einem ruhigen Zustand. Sie beginnt, ihrer Halterin zu vertrauen und sich mehr auf die Verbindung mit ihr als auf die Herde zu konzentrieren.

Stressfaktoren wie die Entfernung von der Herde, eine ungewohnte Umgebung oder mangelnde Führung können sich in Körperhaltung, Bewegungsmustern und Reaktionen auf Umweltreize manifestieren. Pferde suchen in solchen Momenten nach einer klaren, verlässlichen Führung, die ihnen Orientierung und Stabilität gibt.

 

Fazit:
Das Verhalten der Stute verdeutlicht, wie wichtig es ist, die Prinzipien der Pferdekommunikation zu verstehen. Klare, selbstbewusste Führung schafft Vertrauen und Sicherheit – und ermöglicht dem Pferd, sich in seiner Umgebung und in der Verbindung mit dem Menschen wohlzufühlen. Wenn wir lernen, ihre Sprache zu sprechen und ihre Bedürfnisse zu erkennen, entsteht eine Partnerschaft, die von echtem Verständnis und gegenseitigem Respekt geprägt ist. Das beschriebene Szenario verdeutlicht, wie stark das Verhalten eines Pferdes durch die Qualität der menschlichen Führung beeinflusst wird.

Ich möchte ein weiteres Beispiel geben, indem mit Interpretation dem Pferd nicht geholfen werden kann.

Bob, ein Trakener Wallach, der beim Spaziergang im Gelände aufgebracht ist, zeigt deutliches Unwohlsein: Er überholt häufig, wird immer schneller, trägt den Kopf hoch und hält den Rücken angespannt. Diese Stresssymptome können langfristig zu eskalierendem Verhalten führen, insbesondere wenn keine klare Führung durch den Menschen gegeben wird.

Unterschiedliche Perspektiven:

1.     Sicht des Besitzers: Andreas interpretiert das Verhalten als Ausdruck von Vertrauen: Das Pferd wirkt zwar nervös, reißt sich jedoch nicht los und bemüht sich, bei seinem Menschen zu bleiben. Herausforderungen wie das Anhalten oder Rückwärtsrichten werden nicht als Problem des Führungsverhaltens, sondern nachsichtig gesehen da das Pferd ja noch jung ist.

2.     Verhaltensanalyse, aus meiner Sicht:  Das Verhalten des Pferdes zeigt typische Anzeichen von Unsicherheit und Stress. Bob befindet sich außerhalb seiner Komfortzone, entfernt von der Herde, ohne klare Führung durch seinen Menschen. Dieses fehlende Sicherheitsgefühl wird im Gehirn des Pferdes gespeichert und kann dazu führen, dass es bei künftigen Spaziergängen schon frühzeitig Unwohlsein zeigt. Die Reaktionen variieren: Vom Zögern und Stehenbleiben (in der Nähe des Stalles vom Stall wegbewegend) bis hin zu einem hastigen Drang, zurück zum Stall zu gelangen.

Die Bedeutung klarer Führung für Pferde

Jedes Pferd ist genetisch dazu veranlagt zu folgen, nicht jedes Pferd ist dazu veranlagt zu führen. Ein Mensch, der nicht mit Präsenz und Sicherheit führt, sondern lediglich reagiert und "Schadensbegrenzung" betreibt, wird vom Pferd nicht als verlässliches Führungsmitglied wahrgenommen und strahlt somit keine Sicherheit aus.  

  • Pferde bevorzugen eine klare, konsistente Führung, die Orientierung und Sicherheit vermittelt.
  • Eine Führung, die dem Pferd Orientierung gibt, reduziert Stress und verbessert das Wohlbefinden des Tieres.
  • Während Pferde von Natur aus darauf programmiert sind zu folgen, wird Führung nur von wenigen Pferden in einer Herde übernommen – die meisten fühlen sich in einer folgenden  Rolle wohler.

Ein Vorschlag zur Verbesserung:

Menschen, die mit Pferden arbeiten, können durch bewusste Führungstechniken das Vertrauen und Wohlbefinden ihrer Tiere stärken. Dies bedeutet:

  • Proaktive Entscheidungen treffen, wie das Anhalten, Weitergehen oder Erkunden von Gegenständen vorzuschlagen.
  • Sicherheit durch Präsenz und Klarheit vermitteln, und den Erkundungsdrang des Pferdes nutzen indem man ihm Vorschläge macht Dinge zu inspizieren.
  • Das Verhalten des Pferdes als Signal für dessen emotionalen Zustand wahrnehmen ohne zu viele menschliche Ansätze hinein zu interpretieren und entsprechend zu reagieren.

 

Fazit: Klare Führung als Schlüssel zur harmonischen Mensch-Pferd-Beziehung

Die Fähigkeit, ein Pferd sicher und verständnisvoll zu führen, ist von zentraler Bedeutung für eine harmonische Mensch-Pferd-Beziehung. Eine klare, präsente Führung wirkt sich positiv auf das Verhalten des Pferdes aus und fördert gleichzeitig dessen emotionales Wohlbefinden.

Wissenschaftliche Studien zur Pferdeethologie belegen, dass Pferde als Herdentiere eine klare soziale Struktur und nonverbale Kommunikation bevorzugen. Durch einen respektvollen Umgang und ein tiefes Verständnis für die natürlichen Bedürfnisse der Tiere schaffen wir die Grundlage für ihr Wohlbefinden und stärken zugleich die Bindung zwischen Mensch und Pferd.

Artgerechte Führung ist nicht nur ein Zeichen von Respekt, sondern der Schlüssel zu einer nachhaltigen und stabilen Partnerschaft.

 

 

 

 

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