Gib der Routine keine Chance!

Eine Begegnung mit der Routine:
Reflexion eines Unfalls
Da lag ich nun im Gras, schaute nach oben in den Himmel, der Notarzt über mich gebeugt, dann wurde alles dunkel. Nach vier Tagen im künstlichen Koma wachte ich wieder auf, mit einem Gefühl von Unwirklichkeit. Die Stimmen der Ärzte klangen wie aus weiter Ferne, und die Erzählungen über das, was geschehen war, wirkten wie Fragmente eines Albtraums. Ich konnte mich nur an Bruchstücke erinnern – der Rest blieb im Schatten. Aber die Realität dieses Unfalls ließ keinen Zweifel: Mein Leben hatte sich für immer verändert.
Spulen wir zurück zu dem Punkt, an dem die Welt noch in Ordnung war, zumindest für mich. Ich hatte den Auftrag, zwei Pferde von A nach B zu transportieren. Gemeinsam mit den Besitzern holten wir die Pferde von einer riesigen Sommerweide in der Nähe von Würzburg. Es war das typische Setup: Pferde werden alle paar Wochen, wenn die Weide abgefressen ist, zur nächsten Weide gebracht. Der Einstellbetrieb muss sich monatelang lediglich um ausreichend Wasser und intakte Zäune kümmern – eine große Entlastung, wenn das tägliche Misten für 20 Pferde entfällt.
Mit den zwei zu transportierenden Pferden folgte uns ein weiteres großes Warmblut. Er dockte an meiner Seite an, da ich diejenige ohne Pferd war. Anfangs fand ich das sogar witzig, obwohl mir die Auftraggeberin gleich mitteilte, ich solle aufpassen, weil besagter Wallach recht rüpelig sei. Ignorant, wie ich war, nahm ich diese Warnung nicht ernst. Ich fand den Typen einfach nett, vielleicht etwas dödelig, wie er so neben mir hertrottete. Fühlte ich mich geschmeichelt, weil er so eng bei mir lief? Wie trügerisch doch die Wahrnehmung sein kann! Kein Alarm ging in mir an, und so kam es, wie es kommen musste.
Der Unfall: Eine Kette tragischer Versäumnisse
Der Ausgang der Koppel war mit einer Schleuse von etwa 4 × 4 Metern versehen. Eigentlich eine gute und sichere Sache – aber in meinem Fall wurde sie zur Bühne eines Desasters. Meine Aufgabe bestand darin, das Tor zu öffnen und, nachdem die zwei Pferde hindurchgegangen waren, wieder zu schließen, ohne dass der mittlerweile hartnäckige dritte Wallach mit hindurchschlüpfen konnte.
Da stand ich also, mit dem Griff des Elektrozauns in der Hand, bereit, sofort nach der Hinterhand des zweiten Pferdes das Tor zu schließen. Viel zu spät wurde mir klar, dass der dritte Wallach mein wildes Herumfuchteln überhaupt nicht wahrnahm. Er ging buchstäblich durch mich hindurch. Nun ging alles sehr schnell: Er drückte sich durch, trat dabei auf die vorderste Spitze meines Schuhs, und weil ich nicht ausweichen konnte, wurde ich nach hinten gedrückt und überrannt. Scheinbar trat er auch auf meinen Brustkorb – anders lässt sich die fünffache Rippenserienfraktur kaum erklären. Dann wurde alles dunkel.
Später erklärten mir die Ärzte, dass ich großes Glück gehabt hätte, weil der Notarzt so schnell vor Ort war. Beide meiner Lungenflügel waren kollabiert, und ich musste beatmet werden. Eine Verzögerung hätte fatale Folgen haben können.
Reflexion: Die Lehren eines Unfalls
Warum erzähle ich diese Geschichte, die mittlerweile mehr als 17 Jahre zurückliegt? Weil ich aus diesem Ereignis nicht nur schmerzliche Erinnerungen, sondern auch entscheidende Lehren gezogen habe.
1. Die Ignoranz gegenüber Warnsignalen: Dieses Pferd zeigte mir von Anfang an, dass etwas nicht stimmte. Es bedrängte mich regelrecht, doch obwohl ich dies als unangenehm empfand, ignorierte ich es. Mein mangelndes Bewusstsein war der erste Fehler. Wäre es ein Trainingspferd oder das Pferd eines meiner Schüler gewesen, hätte ich sofort interveniert. Aber in diesem Moment versagte meine Wahrnehmung. Ich erkannte nicht, dass das Pferd nicht an mir interessiert war, sondern allein auf die Schleuse fixiert war.
2. Die gefährliche Macht der Routine: Später erfuhr ich, dass die Besitzerin des Pferdes die Schleuse nutzte, um ihm seine tägliche Extra-Portion Müsli zu geben – ohne ihm dafür ein Halfter anzulegen. Diese Routine war so tief verankert, dass das Pferd nichts anderes kannte, als durch die Schleuse zu laufen. Es war nicht seine Schuld, dass er mich überrannte. Er tat nur, was er täglich tat und wofür er belohnt wurde. Dieser Tunnelblick war das Ergebnis jahrelanger Gewohnheit.
3. Früheres Handeln hätte den Unfall verhindert: Wäre ich früher aufmerksamer gewesen, hätte ich das Verhalten des Pferdes deuten und entsprechend handeln können. Mehr Abstand, klare Kommunikation und eine bewusste Reaktion hätten vieles verhindert.
Eine Lehre für die Zukunft
Es ist alles nochmal gut ausgegangen – sonst könnte ich diese Geschichte nicht erzählen. Aber der Schrecken dieses Tages und die daraus gewonnenen Erkenntnisse begleiten mich bis heute. Die zentralen Lehren, die ich ziehen konnte, lauten:
1. Sei in jedem Moment präsent: Egal, ob es ein dir fremdes Pferd ist oder eines, mit dem du täglich arbeitest – sobald du mit ihm in Kontakt bist, sei aufmerksam und präsent.
2. Routinen kritisch hinterfragen: Routine kann Pferde in gewohnte Muster zwingen, die sie schwer zugänglich machen. Sie handeln wie auf Autopilot und sind kaum noch mental erreichbar. Um sicher mit ihnen umzugehen, ist es wichtig, Routinen zu durchbrechen und echte Kommunikation zu etablieren.
3. Zeit investieren, bevor es zu spät ist: Ein bewusster, aufmerksamer Kontakt kostet ein paar Minuten mehr, kann aber Unfälle verhindern. Diese Zeit zu investieren, solange man gesund ist, erspart viel Leid.
Routine und ihre Gefahren
Lange war dieses Ereignis in den Hintergrund getreten, bis ich neulich von einem großen Stall erzählt bekommen habe. Dort rennen alle 70 Pferde abends auf Abruf von der Koppel durch eine lange Schleuse in den Innenhof, wo sie selbstständig ihre Boxen aufsuchen. Der Erzähler war beeindruckt – doch bereits am nächsten Tag erzählte er mir kam das es zu einem tragischen Unfall: Ein Familienmitglied wurde von den Pferden überrannt und musste ins Krankenhaus.
Man kann den Pferden keinen Vorwurf machen. Sie tun, was sie gelernt haben. Wir Menschen müssen lernen, Routinen zu hinterfragen und in einen bewussten, aufmerksamen Kontakt mit den Pferden zu treten.
Ein Plädoyer für mehr Bewusstsein
Der Unfall vor 17 Jahren hat mich nicht nur geprägt, sondern auch meinen Umgang mit Pferden grundlegend verändert. Routine ist bequem, aber im Umgang mit Lebewesen kann sie fatale Folgen haben. In jedem Moment liegt die Verantwortung bei uns – und es liegt an uns, bewusst, achtsam und offen zu handeln.
In diesem Sinne – und im Sinne der Pferde: Bleibt aufmerksam und sicher im Umgang!

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